Mittwoch, 30. April 2008
Die neue Sucht
An manchen Tagen ist es grässlich. Nagend. Fordernd. Die Gedanken überlagernd. Und ähnlich, wie es den Fixer zur Spritze treiben wird, treibt es mich in diese verlockenden Läden, in deren Schaufenstern bunte Bilder die Phantasie beflügeln. Goldene Lettern versprechen Abenteuer, den Rausch der Beschreibungen und Erklärungen, die sich nach und nach im Hinterkopf zu einem Großen und Ganzen zusammenfügen, einem Bild, welches ich eifersüchtig für mich hüten kann, um es in stillen Stunden durch die Erinnerung hervorzuholen und mit ebenso stillem Genuss betrachte.

Andere Frauen sammeln Schuhe. Oder Modellkleider. Oder Parfumfläschchen. Manch eine stellt sich das Wohnzimmer mit Kitsch und Nippes voll, bei einer anderen quellen Stofftiere und Puppen aus jeder freien Ecke der Wohnung. Bei mir sind es Worte. Gebunden, als Taschenbuch, als Heftchen, ganz egal, ein jedes wird, gleich welcher Herkunft, verschlungen, konsumiert, im Regal aufbewahrt, und dann zur passenden Stunde wieder hervorgekramt, um mich an der Erinnerung und Neuentdeckung gleichermaßen zu delektieren. Bei so manchem literarischen Erzeugnis lässt sich im Klappentext schwärmerisches vernehmen. Oft trifft man gerade bei Frauenromanen auf die Formulierung "Ich fand es schade, dieses Buch beiseite zu legen, als ich es fertig gelesen hatte, schien es mir doch vertraut wie ein guter Freund." Aber ist es nicht wirklich so?

Ein neues Buch vermag zu überraschen, verleitet zu Spekulationen, lässt den Leser nach dem Ende, der unweigerlich folgenden Auflösung hungern und harren, manch einer betrügt sich selbst um diese unvermeidliche Beendigung der Lesereise, indem er die letzten Seiten zuerst liest. Aber ein Buch, welches man auch nach Jahren immer wieder zur Hand nimmt, hat diesen Reiz längst durch Vertrautheit ersetzt. Durch Bekanntes, das man sich selbst wieder neu entdeckt. Man wandelt zwar auf dem bisweilen etwas ausgetretenen Pfad des Wissens um die Formulierkunst des jeweiligen Autors, seine Stärken und Schwächen, aber man kann sich niemals an alles genau erinnern, stolpert vielleicht hier und da über eine Schreibweise, die man nicht mehr im Gedächtnis gehabt hatte - und erliest sich das Altbekannte auf neue Weise.

Warum also sollte man sich nicht mit einem gewissen Stolz zu jenen zählen, die süchtig nach Worten sind, nach den Versprechungen, den Hoffnungen und auch dem Geschenk des Eintauchens in eine andere Welt, ohne dass man als ernsthaftere Nebenwirkung etwas anderes verspürt als nach noch mehr Büchern? Ich sollte dazu sagen, dass ich genau drei Paar Schuhe mein Eigen nenne, drei verschiedene Flaschen Parfum, die Stofftiere längst irgendwo in einem Schrank liegen und ich Kitsch nicht leiden kann - aber mehr als 500 Bücher, die langsam aber sicher die Kapazität meiner Regale überfordern. Lesestoff ist ein so geduldiger Begleiter auf der langen Fahrt zur Arbeit. An Abenden, an denen man den Kopf frei von den Sorgen des Alltags bekommen will. Und er verlockt oft genug, selbst zu schreiben. Welche Frau entwirft schon eigene Schuhe, wenn sie das zweihunderste Paar mühsam in den Schrank gezwängt hat?

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